Im Juni 2016 war ich zum siebten Mal in Motala, der ‚Welthauptstadt‘ des Radfahrens, um die Vätternrundan zu fahren.
Solveig, eine #Kettenheldin, die ich aus unserer Vätternrundan-Facebook-Gruppe kenne, war zum ersten Mal am Start.
Sie hat einen tollen Bericht geschrieben, den ich als Gastbeitrag veröffentlichen darf.
Wer darüber hinaus mehr zur Vätternrundan erfahren will, findet hier und in der Rubrik Vättern weiteren Lesestoff.
Gebucht hat Solveig die übrigens pauschal, bei Schulz Sportreisen. Für Erstumrunder ist das sicher eine gute Option.
Viel Spaß beim Lesen und Miterleben :-).
Etwas vorweg:
Die „Vätternrundan“ ist das größte Radsportevent der Welt und findet seit 1966 jedes Jahr am Wochenende vor Mittsommer statt. Start und Ziel der 300 km langen Rundan ist in Motala. Profis und Amateure gehen gemeinsam an den Start; es findet keine Platzierung statt: die Teilnahme und die Realisierung innerhalb von 24 Stunden ist das Entscheidende. Dennoch werden die Durchfahrtszeiten in Gränna, Fagerhult, Karlsborg und Medevi registriert – zum Schluss erhält jeder Finisher ein „Diplom“ mit seinen gemessenen Durchfahrtszeiten. Die Teilnehmerzahl steigt zwar jedes Jahr, ist jedoch begrenzt auf 23.000. 2016 starteten ca. 21.000 (!) Radfahrer. Davon gingen aufgrund der schlechten Wettervorhersage schon 3.000 nicht an den Start, 800 kniffen auf den ersten 100 erbarmungslosen Regenkilometern und weitere 1.500 brachen die Rundan unterwegs ab.
Jeder Schwede sollte einmal im Leben diese Veranstaltung mitgemacht haben und für alle anderen Radbegeisterten aus über 52 Ländern (!) ist es ein fantastisches Erlebnis, den Vätternsee in einer Nacht und einem Tag zu umfahren.
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Infiziert mit der Idee „Vätternrundan“ hatten mich sowohl ein ehemaliger (nach Schweden ausgewanderter) Schulfreund, als auch unser Ersatzmann im Mixed-Team von Rad am Ring. Beide hatten letztes Jahr diese Tour absolviert und beide hatten sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Seit Juli 2015 spukte deshalb dieser fixe Gedanke durch meinen Kopf. Ich war noch nie eine solch lange Strecke am Stück gefahren, aber ich wollte es einfach wissen und sah es als eine Art von Grenzerfahrung – den nötigen Respekt hatte ich deshalb schon ein Dreivierteljahr vorher!
Da sich die Startplatzvergabe besonders für Neulinge schwierig gestaltet, wählte ich den Weg über ein „Rundrum-Sorglos-Paket“: eine organisierte Reise mit Startplatzgarantie. Tatsächlich hatte ich im Oktober (nachdem sicher war, dass ich tatsächlich in genau dieser Woche Urlaub haben werde) auch noch das große Glück, einen der letzten Plätze zu erhaschen. Es sollte dann wohl so sein. Bei meinem Anruf in Dresden beim Veranstalter wusste ich noch nicht, auf was ich mich da einlasse. Das dämmerte mir erst, nachdem ich mich noch intensiver mit den verschiedensten Erfahrungsberichten beschäftigte.
Auf jeden Fall stand ab dem Buchungstag für mich fest: Ich muss etwas tun, mich vorbereiten, sonst geht diese Unternehmung gehörig an den Baum, und das wollte ich nicht riskieren. Also wurde aus meinem erträumten Sonnenurlaub auf Lanzarote ein Radurlaub mit dem Trainingspartner „Wind“. Gleichzeitig meldete ich mich für ein Trainingslager auf Mallorca an. Und zwar im März, damit ich dann „nahtlos zu Hause weiterfahren“ konnte – so der Plan. Den Winter über verbrachte ich endlose Stunden auf dem heimischen Spinningbike; vorzugsweise mindestens zwei Stunden am Stück im Sitzen. 300 km wollten irgendwie durchgesessen werden!
In Summe hatte ich dann trotz des schlechten Wetters auf Mallorca und zu Hause doch immerhin 1.600 Trainingskilometer in den Beinen und unzählige Stunden Spinning. Mit jedem weiteren Regentag vor meiner Abreise schwand jedoch meine Hoffnung, dass ich diese Tour irgendwie überstehen könnte. Durch diese Motivationslöcher halfen mir aber der Schulfreund in Mora und Ines, unsere Teamkollegin, Triathletin/Lauftrainerin. Ich lernte recht deutlich, dass man mentales Training nicht unterschätzen sollte!
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Am 15.06. war es dann endlich soweit und – wie konnte es anders sein – auch in Dresden bei unserem Start goss es wie aus Kannen! Auf dem Weg zum Bus hatte ich schon die Nase voll: Rechts das gut verpackte Rad an der Hand, links zerrte ich meine rollbare, sicher fast 35 kg schwere Reisetasche missmutig hinter mir her; auf dem Rücken hing mein Rucksack fürs Handgepäck (Bus und Fähre) unter einer Regenhaube. Es ließ sich ja super an …
Nach 15 min Fußmarsch erreichte ich die Gruppe und den Bus. Alle zogen entsprechende Gesichter, alle waren aufgeregt, jeder suchte Schutz vor dem Regen und hoffte, dass sich das Wetter bis Schweden irgendwie besserte. Jeder gab zu, seit Tagen sämtliche verfügbaren Wetterberichte und Apps zu sichten und zu vergleichen. Es sah nicht gut aus für uns! Aber in Einem waren wir uns alle sicher: Wir schaffen es trotzdem!
Der Bus wurde beladen, der Radhänger mit den gut gesicherten Schätzen bestückt und auf ging’s über Berlin-Schönefeld nach Rostock zur Fähre nach Trelleborg. 21.30 Uhr legte die Fähre pünktlich ab und mein erstes Abenteuer begann: Ich hasse Fähren und hatte außerdem noch eine Innenkabine! Die Nachtruhe zögerte ich so lange wie möglich hinaus. 23.00 Uhr kehrte aber auch im Aufenthaltsraum langsam Ruhe ein (Fußballende), so dass ich mich meinem Schicksal fügte und auch meine Koje aufsuchte. Oben im Doppelstockbett zu schlafen mit Fährangst ist kein Spaß! Ab ca. 1.30 Uhr war ich plötzlich hellwach und bildete mir lebhaft ein, dass unser Schiff unglaublichen Seegang hätte … Schweißgebadet wartete ich auf den Weckruf der Crew gegen 3.30 Uhr. Ich war heilfroh, dass ich dieser Kabine entfliehen konnte. Frischmachen und ab nach oben von Deck 3 (direkt über dem Laderaum für LKWs) zu den anderen. Geschlafen hatte ich kaum. Eine super Vorlage für die nächsten Tage! Erst nach festem Boden unter den Füssen bzw. im Bus konnte ich das erste Mal wieder durchatmen und mein Magen entspannte sich. Die See war übrigens die gesamte Nacht über still und lag ruhig wie ein Brett.
Unsere Unterkunft in Ljungsbro erreichten wir nach einem Zwischenstopp in Vadstena gegen 15.30 Uhr. Eine jugendherbergsähnliche Anlage stand uns bis zum 20.06.2016 zur alleinigen Verfügung. Wir luden Bus und Radhänger aus, nahmen die Zimmer in Empfang und freuten uns über das traumhafte Wetter. Sonne ist schon was Tolles! Später am Nachmittag fuhren wir alle gemeinsam nach Motala, um unsere Startunterlagen abzuholen, das Startumfeld zu besichtigen, den Busparkplatz schon einmal im entspannten Zustand gesehen zu haben, die Messe unsicher zu machen (jeder deckte sich hier übrigens noch mit einem sonst verpönten Spritzschutz für sein Rad ein!) und um dann gemeinsam noch etwas essen zu gehen.
Es regnete inzwischen. Trotzdem wimmelte es in der Stadt vor Radfahrern und begeisterten Einwohnern. Schon den ganzen Nachmittag über fanden Kriteriumsfahrten statt, u.a. auch der „Bianchi Vättern GP 2016“ und verschiedene Kinderrennen (sehr, sehr cool die Zwerge!). Es war irre, diese Stimmung ist nicht zu beschreiben. Obwohl der See und Motala bereits die Minivättern, den Vättern GP, den Halvvättern (150 km) und auch den Tjejvättern (Frauenrundfahrt 100 km) in diesem Jahr erlebt hatte, spürte man an diesem Tag bereits bei allen die Aufregung und die Spannung vor der Traditionsrunde.
Morgen Nacht sollte es noch schlimmer werden. Das war zu dieser Zeit aber nur den Wiederholungstätern von uns richtig bewusst. Die Anfänger und Neulinge wie ich ließen sich einfach treiben, wir sogen diese tolle Stimmung nur auf und staunten … Es war kein Vergleich zu einem Radrennen oder Radevent in Deutschland. Es war alles so anders! Unbeschreiblich. Besonders.
Da die Vätternrundan in Schweden eine große (51 jährige) Tradition hat, wird sie auch gelebt. Sie hat Volksfestcharakter. Die Anwohner rund um den Vätternsee treiben und pushen die Fahrer mit Gesängen, Musik und Anfeuerungsrufen zu allen Tages- und Nachtzeiten über die Distanz. Aber all das sollte ich noch live erleben und auch genießen.
Die Nacht ging rasend schnell vorbei. Wir waren alle übermüdet und genossen es, in einem richtigen Bett zu schlafen und ein Frühstück erst ab 9.00 Uhr in Aussicht zu haben. Vor uns lag ein entspannter Tag. Da wir unsere Startunterlagen schon hatten, konnten wir uns in Ruhe um unsere Räder kümmern, sie noch einmal bei den mitgereisten Jungs vom Bike-Service durchchecken lassen, die Lampen montieren, die Räder „regenfest“ machen und unser eigenes Equipment sortieren. Und wieder ein Moment, an dem die Erfahrungen der alten Hasen sehr von Vorteil waren. Ich freute mich jetzt sehr über meinen kleinen RR-Rucksack von Deuter, den ich mir extra zum Geburtstag gewünscht hatte, weil ich diese vollgestopften Trikottaschen so hasse. Außerdem wäre es eh lästig gewesen, diese zu erreichen: Laut Regenradar erwartete uns viel Wasser von oben und das hieß. Jacken ohne Rückentaschen.
Ich war inzwischen froh, dass sich in meinem Fundus alles, aber wirklich alles finden ließ, was irgendwie auf dem Rad gegen Regen schützen könnte. Die Wochen der Vorbereitung und das Wissen, was uns erwarten würde, hatte mich sehr aktiv werden lassen. Außerdem war ich jetzt insgeheim froh, dass ich auf Mallorca keine Sonne, sondern regelrechtes Mistwetter hatte. Mich ließ die Vorstellung vom angekündigten vielen Regen auf der Strecke zwar auch nicht kalt, aber ich sagte mir, dass es nicht schlimmer als auf Malle werden könnte. Hagel und Regen bei 9 Grad würden nicht getoppt werden. Die Temperaturen bewegten sich im Bereich von 15 bis 17 Grad. Das klang für mich schon fast angenehm. Ich durfte mich nur nicht zu warm anziehen, denn ich hatte nicht vor, Kleidung in den Depots abzugeben, um sie mir dann irgendwann am Abend wieder in Motala abzuholen. Das alles sollte aber kein Problem werden: Ich friere nicht so schnell. Insgesamt fühlte ich mich dann mit meinem Anzugsplan zufrieden und konnte mich halbwegs auf die geplante Pastaparty „konzentrieren“.
In diesem Rahmen teilten uns die Veranstalter mit, dass sich in unserer Runde ein Goldenes Hochzeitspaar befindet, dass sich die Vätternrundan zum Jubiläum gegönnt hatte (!) und dazu kam noch ein Geburtstags“kind“ von 70 Jahren. … Diese Daten zeigen ziemlich deutlich, dass der angenommene Altersdurchschnitt unserer Reisegruppe tatsächlich bei 55 + lag. Und ich sollte noch erfahren, dass dieses Alter nicht zu unterschätzen ist!
Unsere Startzeit war am Samstagmorgen (18.06.2016) um 1:54 Uhr. Eine tolle Startzeit, da man in den Tag hineinfährt und normalerweise direkt in den Sonnenaufgang. Ich freute mich darauf; Nachtfahrten mag ich sehr. Außerdem war Mittsommer und die Sonne würde ab ca. 3.00 Uhr aufgehen. Dieses Jahr sollte aber alles anders werden …
Die Zeit bis zur Abfahrt nach Motala um 23.30 Uhr verbrachte jeder für sich und versuchte zu schlafen. Keine Chance! Jedenfalls ich war so aufgeregt, dass an Schlaf nicht mal zu denken war. Das konnte ja lustig werden! Das Adrenalin sorgte bereits jetzt dafür, dass ich mich wie ein Duracell-Hase fühlte. Da die Räder schon am Abend alle verstaut waren, rollte der Bus pünktlich 23.30 Uhr vom Hof. Ein Ameisenhaufen ist ein Witz dagegen! Ein Gegacker, nervöses Lachen, Stimmengewirr … keiner war mehr ruhig, alle spürten die Unruhe, die Vorfreude, die Aufregung. Die Rundan rückte näher und jeder fieberte ihr entgegen. Aber inzwischen wirklich jeder! Es wurden Überschuhe ausgezogen, angezogen, doch wieder aus, um sie nachher vor dem Start wieder anzuziehen – nachdem man auf Wetterapps die Regenwolken ziehen sah. Hier musste doch noch einmal einer auf Toilette, dort fiel plötzlich aus heiterem Himmel das Vorderlicht ab – ein Drama!
Die Kontrolle des Lichtes (vorn und hinten) war sehr genau und sehr streng. Ich hatte meinen Halter für meine Sigma ganz zu Hause vergessen und musste deshalb schon meine Vorderlampe mit Tape befestigen; etwas „russisch“, aber meine neue Halterung schien fest zu sein. Ich leuchtete zwar nicht auf die Straße, sondern schräg nach oben in den Nachthimmel, aber das war mir egal: Übersehen konnte man mich nicht.
Unser Start rückte näher. Die Starts erfolgten im 2-Minuten-Abstand zu je 70 Fahrern. Immerhin sollten 21.000 Radler in die Spur gehen und gestartet wurde bereits seit 19.30 Uhr. Das Gewimmel war unglaublich. Wir zwangen uns zur Ruhe und gingen langsam zur Aufstellung in unsere Box. Hier wurden wir noch einmal kontrolliert: Der Transponder musste sichtbar am Helm kleben; die Helmschutzhauben waren eigentlich verboten. Aber wir waren uns bewusst, dass es vielleicht nur einige trockene Kilometer geben wird, bevor uns der Regen trifft. Wer eine Regenhaube hatte, ließ sie auf dem Helm.
Der Sprecher in der Startzone redete und redete und redete, keiner verstand, was er sagte, alle hatten nur die Zeit im Blick – die Sekunden liefen rückwärts. Jeder suchte seine Klicks, dann unser Aufruf, DEN hatten wir plötzlich alle verstanden ;o) und ab da ging alles ganz schnell — 1:54 Uhr wurde freigegeben, das Band zurückgezogen und die Gruppe von 70 Fahrern setzte sich in Bewegung. Die Klicks klickten überall, die Räder surrten los und das Fahrfieber packte auch mich.
Dieses Gefühl lässt sich nicht beschreiben. Es ist ein Fieber, man spürt es, sobald die Zeitmessung das erste Mal passiert wurde und man in die offizielle Strecke einfährt, die ersten Ordner stehen sieht, die ersten Hinweisschilder, die ersten begeisterten Zuschauer – es gilt. Und ab jetzt wünscht man sich nur noch, dass jeder wieder heil ankommt.
Von Michel aus Lönneberga durchs Astrid Lindgren-Land
Wir rollten in die Nacht; durchfuhren winzige Häuseransammlungen, überfuhren eine Autobahn, überrollten blinkende Ampeln, dann schluckte uns die Dunkelheit der Landstraße … Stille, Dunkelheit, nur das Surren der Laufräder war zu hören und ab und an eine Schaltung; ab hier begann es leicht zu tröpfeln … und es waren erst 20 km, die wir hinter uns gelassen hatten! Die Luft war zwar warm, aber so sollte es nicht bleiben. 43 km bis zum Depot in Hästholmen – es ging mit wenigen Steigungen relativ zügig durch den anfangs noch leichten Regen. Ich fuhr mit einer Bekannten aus der Reisegruppe. Wir waren kein homogenes Team, aber wir begannen uns nach den ersten unrunden Kilometern schnell auf einander einzustellen.
Bereits in Hästholmen regnete es dann so stark, dass wir bis auf den letzten Faden nass waren. Hier half keine Regenjacke, kein Neopren über den Schuhen! Meine Teamkollegin kam mir mit zitternden Händen und zwei Bechern lauwarmer Blaubeersuppe entgegen. Ich fragte mich, wie sie das wohl durchstehen will, wenn sie schon jetzt so sehr friert oder war es Erschöpfung? Ich weiß es bis heute nicht. Lange nachzudenken – dazu hatten wir keine Zeit, es ging weiter Richtung Gränna (tiefstes Michel-von-Lönneberga-Land!).
Der Regen war unerbittlich. Es goss, was der Himmel hergeben konnte. Ich signalisierte K., dass wir jedes Depot mitnehmen werden, um etwas Warmes zu trinken. Trocken würden wir nicht mehr werden, also mussten wir anders vorsorgen, dass es uns gut geht. Das hieß, nächster Stop in Ödeshög. Dann weiter, weiter durch den strömenden Regen. Die Durchfahrt durch Gränna war schlimm: Sicher ein wunderschönes Städtchen, aber durch den gesamten Ort führt die einzige Pflasterstraße auf der ganzen Strecke. Mit dem starken Dauerregen war das ein gefährliches Unterfangen.
Das Depot war eine einzige Wasserpfütze. K. zitterte bereits so stark, dass ich mir Sorgen machte, wie sie wohl weiter fahren kann/möchte. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Nach ca. 15 min trennten wir uns. Sie wollte, dass ich alleine fahre, sie brauchte noch ein Dixi. Auch ein echtes Abenteuer mit tropfnassen Sachen in der Enge des Klos! Und das konnte dauern! Wertvolle Zeit, die sie mir nicht nehmen wollte. Ich sattelte mein Rad und fuhr langsam in den dämmernden Morgen – durch strömenden Regen, über überflutete Straßen, über die ersten wirklich knackigen Anstiege. Weiter, immer weiter.
Wenn ich mir so im Nachhinein überlege, habe ich kaum nachgedacht. Da sie nicht nötig war, trug ich von Beginn an bewusst keine Brille. Der Regen lief mir über die Augen (das war nicht schlimm), er tropfte von der Nase, lief mir übers Kinn in den Halsausschnitt der Jacke. Unterwegs fiel mir auf, dass ich eine seltsame Beule an meinem Oberschenkel hatte. Ich fühlte nach und stellte fest, dass sich seitlich in meiner Hose zwischen Hose und Beinlingen Wasser gesammelt hatte. Ich ließ es ablaufen und sofort war die Beule wieder da. Mit solchen Dingen beschäftigt man sich, während man durch die Dämmerung und diffuses Licht, endlosen Regen und neblige Wälder fährt, während man überlegt, wie viele Gruppen vor einem fahren, wie groß der Abstand wohl ist (denn man sah kaum 300 Meter weit), wie man am besten in der nächsten Kurve abfährt, da man bereits die Bäche über die Straße fließen sieht.
Das Treten war abenteuerlich: Man hat das Gefühl, als wate man durch tiefe Pfützen; die Löcher in den Sohlen der Schuhe schafften den Ablauf nicht! Und man bemerkt dabei gar nicht, wie man Kilometer um Kilometer hinter sich lässt. Mit einer immerhin passablen Geschwindigkeit von ca. 31 km/h.
Während ich mich so alleine immer mal wieder an eine Gruppe anhing, überlegt ich, wo K. sein mag. Ob sie den Bus nach Hause genommen hatte? Oder ob sie irgendwo zwischen den hunderten Fahrern hinter mir war? Etwas Angst hatte ich schon um sie: Sie ist das Pulk-Fahren überhaupt nicht gewöhnt und hatte schon vorher Angst, wenn uns große Gruppen in einer größeren Geschwindigkeit ziemlich eng überholten. Was, wenn sie schlingert und ein Unfall passiert? Warum zum Geier tue ich mir das Ganze hier eigentlich an? Ich, die zu Hause keinen Meter fährt, wenn sie abschätzen kann, dass sie eine Wolke einholt und es regnen könnte! Ich, ausgerechnet ich, fahre hier schon fast 100 km im strömenden Regen! Auch wenn ich mir oft auf der Strecke nach Süden gen Jönköping solche Gedanken machte: Ich dachte nicht eine einzige Sekunde daran, aufzugeben und vom Rad in den Rückholbus zu steigen!
Jeder einzelne Einwohner der Orte rund um den See bestärkte mich in meinem Ziel: Diese 300 km bis zum Ende durchzufahren. Bei strömendem Regen standen die Einwohner nämlich in den Bushaltestellen, mit Regencaps, Gummistiefeln, mit Schirmen, die Hunde mitunter besser eingepackt als sie selbst und jubelten mitten in der Nacht den Fahrern zu. Solche Erlebnisse beflügeln und stärken den eigenen Willen ungemein!
Kurz vor Jönköping wurde ich plötzlich aus meinen Gedanken gerissen:
Ich hatte mich irgendwie wie beim Spinning weggebeamt; damit hatte ich die „Hügel“ zwischen Gränna und Jönköping wie im Flug überquert, hatte Husquarna gar nicht registriert! Dabei wollte ich doch aufpassen! Umleitung? Was jetzt? Bin ich doch falsch? Wir alle? Wir mussten einzeln hintereinander fahren. Ja, tatsächlich, es war die Einfahrt zum Depot in Jönköping. Dabei hatte ich es noch gar nicht auf dem Plan! Ich war für mich zu schnell da! Jönköping – von den alten Hasen als das beste Depot gepriesen. Es war eine Eishockeyhalle, sie war warm, trocken, mit Matten ausgelegt und es gab Köttbullar mit Kartoffelmus! Ein 5-Sterne-Gericht zwischen Salzgurken, lauwarmer Blaubeersuppe, matschigen (durch den Regen) süßen Milchbrötchen und Honigtee.
Ich genoss die ganzen sechs Kötbullar wie ein Schnitzel. Den Kartoffelmus drückte ich mir förmlich rein. Nachdem ich meinen Teller leer hatte, begann ich mich umzuziehen. Das Polster der Hose hatte ich vor der Halle bereits ausgedrückt … Unglaublich! Da ich aber noch immer nicht fror, verzichtete ich darauf, mein Trikot zu wechseln, sondern zog mir nur die klitschnassen Armlinge ab, wechselte meine Windjacke (die wirklich sehr lange dicht blieb) gegen die richtige Regenjacke. Das erwies sich nachher als eine gute Idee.
Plötzlich hörte ich jemandem durch die Halle meinen Namen rufen! Ich konnte es kaum glauben: K. war da! Sie hatte es immerhin bis hierher geschafft. Alleine. Ich kann nicht beschreiben, wie froh ich war, dass es ihr gut ging. Ich machte ihr ziemlich deutlich, dass wir ab jetzt nur noch zusammen fahren würden. Wir lagen gut in der Zeit, so dass wir nicht hetzen und rasen mussten. Was im Grunde sowieso nicht ging, denn wir wussten nicht, was uns wettertechnisch noch erwartet. Der Regen hatte nämlich nicht merklich nachgelassen.
Ich freute mich nachträglich noch über meine Entscheidung, für die kleine Oberrohrtasche einen Zettel mit allen Depots geschrieben zu haben. Es stand hinter jedem Depot die Entfernung bis zum nächsten möglichen Stopp. Da wir ab jetzt wieder gemeinsam unterwegs durch den Regen waren, war es eine gute Motivation: Die Kilometer zwischen den Depots nehmen nämlich nach Jönköping ab. Mit dem Bewusstsein, dass wir jetzt die Spitze des Sees bereits geschafft hatten, spulten wir Kilometer um Kilometer ab. Fagerhult näherte sich. Wir hatten immerhin schon 140 km geschafft. Das Wetter wurde etwas besser, es wurde etwas trockener und regnete nur noch ab und zu.
Ich hoffte mit jedem Kilometer, dass uns die Pannenhexe bis zum Ziel verschont. So viele schlauchwechselnde Radler habe ich noch nie gesehen wie in diesen Stunden! Ich hoffte und hoffte, denn einen Schlauch zu wechseln unter diesen Bedingungen war nicht mein Traum! Im Gegenteil.
Hjo – das nächste Ziel war Hjo. Hier hatten wir davon gehört, dass es Lasagne geben soll. Die wollten wir aber beide auslassen. Keiner von uns brauchte jetzt eine fettige Nahrung, die lange im Magen liegen würde. Statt dessen „genossen“ wir Blaubeersuppe, Milchbrötchen und Bananenecken.
Wer Hjo erreicht, hat bereits 178 km hinter sich gelassen. Hjo war wieder – wie so oft – der Ort, an dem die meisten aufgegeben haben; das erfuhren wir hinterher. Bei diesem Stopp brauchte ich unbedingt das zweite Mal ein Dixi. Da die Sachen fast trocken waren, ging alles relativ schnell, so dass wir nach ca. 15 min wirklich wieder unterwegs waren.
Das Wetter meinte es nun langsam etwas besser mit uns; Der Regen hatte sich fast verzogen und sich mit dem Wind abgewechselt. Der kam immer von der Seite und von vorn, nie von hinten, aber es schien trocken zu bleiben. Wir spulten Kilometer um Kilometer ab. Ich weiß jetzt, dass der Spruch „100 gehen immer“ viel Wahrheit beinhaltet; dass es nur im Kopf angekommen sein muss und dann agiert man. Das läuft schon, wenn man nur WILL! Auf der Strecke wechselten K. und ich uns mit der Führungsarbeit und dem Windschatten ab. Die meiste Zeit fuhr ich vorn. Ich hatte das Gefühl, dass meine Kräfte noch besser beisammen waren als K’s.
Immer wieder freuten wir uns über die Schilder am Straßenrand, die uns die verbleibenden Kilometer bis nach Motala anzeigten. Wir ertappten uns sogar dabei, dass wir wieder über verschiedene Sachen lachen konnten und inzwischen nicht mehr nur jeder für sich vor sich hin trat: Wir staunten über die Veteranen, die wir ab und zu überholten (sie trugen besondere Startnummern), über das Schuhwerk von ausgefallenen Fahrern (Klompen auf dem Damenrad mit Körbchen) usw. Wir nahmen tatsächlich aktiv am Rennen teil!
Dann, irgendwann waren wir plötzlich in Karlsborg; ich wäre fast links vorbeigefahren, da ich die Einfahrt rechts zum Depot übersehen hatte. Eigentlich wollte ich auch nicht anhalten, es lief grad so richtig super. Aber ich hatte es ja versprochen … Karlsborg hieß: Die 200 km sind geknackt. Karlsborg liegt bei 210 km. Kurze Pause und weiter ging es: Boviken erwartete uns schon bei 232 km. Auf den letzten Kilometern bis Boviken begannen wir zu spüren, was die Alten meinten: Kräfte aufheben und nicht überpacen, die letzten Kilometer werden hart!
Nicht allein, dass uns der Wind ab und zu gewaltig zusetzte, die Hügel nahmen auch kein Ende! Ich hatte streckenweise das Gefühl, zu Hause im Dachauer Hinterland über meine „Wellblechstrecke“ zu fahren. Es ging auf und ab und auf und ab. Dort sammelten wir ziemlich schnell die letzten angegebenen Höhenmeter. Alle die, die nicht glauben wollen, dass man in Schweden Höhenmeter sammeln kann, werden spätestens hier auf dieser Rundan eines Besseren belehrt!
Medevi Brunn war nah, nach einer scharfen Biege von der gesperrten Autobahn rechts in den Wald freute ich mich auf Waldwege (schließlich war es jetzt trocken und wir hätten es auch genießen können) und wurde schlagartig wach: Ein niederländischer Fahrer neben mir bedeutete mir lachend, dass jetzt ein richtiger Berg folgen würde! Ich wusste (noch) nicht, was er da redete und freute mich noch über den Smalltalk und plötzlich sah ich die kleine Rampe! Ganze 16% wies der Garmin nachher aus! Keine lange Strecke, aber wer mehr als 270 km im Hintern und den Beinen hat, lacht nicht mehr über diese kleine Abwechslung. Zähne zusammengebissen, leichter Gang und durch. Ich hatte kein Problem damit, die Abwechslung tat trotzdem gut. Oben stand ganz fies und von unten nicht zu sehen: Ein Streckenfotograf und hielt alle Ankömmlinge an der „Boviken-Rampe“ für die Nachwelt fest. Super! Viele werden sich geärgert haben, dass sie abgestiegen sind, aber ich kann auch jeden verstehen, der geschoben hat!
Das Depot in Medevi Brunn ließen wir aus. Alleine das Wissen, dass das Ziel in greifbarer Nähe ist, ließ neue Kräfte frei werden. Es war unglaublich!
Und noch etwas: Auf den letzten Kilometern ohne Regen hatte man auch ab und zu einen Blick, einen freundlichen Gruß, ein Winken für die vielen enthusiastischen Schweden am Rand der Strecke übrig! Es war beeindruckend, mit welchem Eifer sie diese Tour verfolgen: Es wurden in den Gärten Pavillons, Tische, Stühle, Liegestühle direkt am Zaun aufgestellt, die ganze Familie saß dort zusammen und winkte, rief und feuerte jede einzelne Gruppe an. Man hob jedes Mal fast von alleine den Arm um zurückzuwinken und zu grüßen!
Diese Begeisterung trug uns wirklich auf den letzten Kilometern Richtung Motala! Es rollte zwar nicht ganz von alleine, aber der Motivationsschub war deutlich spürbar. Ich wartete auf Hammarsundat. Auf die wunderschöne Brücke. Und ich war am Ende enttäuscht, dass wir keine Gelegenheit hatten, diese traumhafte Aussicht auch genießen zu können – ich konnte ja nicht einfach rechts halten und Fotos machen! Allen Wartenden auf Fotos zum Trotz: Nein, dieses Mal nicht!
Auf zum Finish
280 km … mannomann, ich habs jetzt fast … tritt, tritt, tritt weiter … diese Gedanken beschäftigten mich immer wieder. Ich fragte mich auch ständig auf diesen letzten Kilometern, wie die Fahrer z.B. der Tour de France täglich die Etappen durchhalten. Nicht nur alleine wegen des Kraftaufwandes, sondern wegen des SITZENS! Die letzten 20 Kilometer wurden für mich zur Tortur! Spätestens nach jedem 2. Kilometer stand ich und fuhr einige Meter im Stehen. Wie man sich drehte oder wendete, es tat immer irgendeine Stelle einfach nur weh.
Aber bald, bald!! Motala – man „roch“ die Stadt fast schon! Die Einfahrt in die Stadt war erreicht, da: Der Campingplatz auf der rechten Seite! Dort lagen schon viele vor uns gestartete und bereits frisch geduschte Finisher an den Hängen im Gras und jubelten uns zu. Meine Gedanken hämmerten: Fahr zu, fahr einfach, du bist gleich da!
Die Vätternpromenade im Zentrum von Motala. Das Ziel war in Sicht! Wahnsinn! Ich merkte, wie mir plötzlich vor Freude, vor Erleichterung und Begeisterung die Tränen in die Augen traten! Lange, zu Beginn schier unüberwindbar erscheinende 300 km (!) lagen jetzt hinter mir!! Vor mir das Ziel und – der Mann mit der Flagge – Zeitmessung und ABGEWUNKEN, AUS, wir sind da!! Ich habe den Zieleinlauf gar nicht mehr richtig wahrgenommen. Ich war wie benebelt. Glücklich, froh, enttäuscht, dass es schon rum war. Alles auf einmal! Es war tatsächlich schon vorbei! Ich realisierte es noch gar nicht wirklich! Nur, dass da plötzlich eine Medaille um meinem Hals hing und K. unbedingt Fotos machen wollte. Ich war überhaupt nicht darauf aus! Heute freue ich mich sehr darüber, dass sie so hartnäckig war!
Zusammenfassend und ganz kurz kann ich zum Schluss sagen, dass mich der Virus „Vättern“ infiziert hat.
Ja, ich werde noch einmal starten; ich möchte den See beim Umfahren auch wirklich einmal sehen! Es kann ja nicht jedes Jahr so dichten Regen geben, dass man keine 300 m weit sehen kann! Und: Ich möchte meine Zeit verbessern. Meine erste Vätternrundan absolvierte ich in 15:30 Std. (brutto, wir hatten bis auf Boviken an jedem Depot gehalten) und netto 12:36 Std.. Für einen Neuling eine Spitzenzeit, aber ich weiß, dass ich es besser kann …
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Einige Details am Rande zur Nachlese
Meine Verpflegung auf dieser Rundan bestand aus: ca. 15 kleinen Pappbechern lauwarmer Blaubeersuppe, dazu ca. 20 kleine Milchbrötchen, ca. 10 Bananen, zwei Pappbechern voll widerlicher, aber notwendiger Salzgurken, 2 x Magnesium Liquid, einem Riegel Zipvit ZV8 Energy Bar und ca. 2,5 Liter zu Trinken (Mischung aus Maltodextrin und High5 Energy Source gemischt in Wasser). Keine Gels und keine weiteren Riegel. Meine Grundlage war einfach ein ausgewogenes und kohlehydratreiches Essen vor der Tour. Dass ich während der Tour keinen einzigen Krampf, irgendwelche Sitzbeschwerden, Druckstellen und nachher keinen Muskelkater hatte, zeigt mir, dass meine Ernährung und die Versorgung bereits lange im Vorfeld mit Mineralien und Magnesium optimal war. Und ich schwöre auf Assos Sitzcreme und Assos Hosen!
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Sieben von unseren Mehrfachtätern und ältesten Fahrern durchfuhren die Strecke von 300 km in unter neun bzw. zehn Stunden! Merke: Unterschätze nie die Beine eines alten, erfahrenen Radlers!
Veteranen der Vätternrundan fahren mit besonderen großen und farbigen Startnummern, die weithin erkennbar sind.
10 Teilnehmer allein von unserer Gruppe hatten einen technischen Defekt an ihrem Rad – sei es platte Reifen oder andere Missgeschicke.
In Unfälle waren wir nicht verwickelt.
Es heißt: Es gibt die einen, die lieben Vättern und die anderen, die hassen Vättern. Es gibt kaum etwas dazwischen. Ich gehöre zu denen, die sie lieben: Endlich eine lange Strecke, auf der ich mich „austoben“ kann, die ich nur einfach fahren kann, ohne ständig Angst zu haben, mich zu verfahren :o)
Über die Autorin:
Ein quirliges Energiebündel, das bereits über viele Jahre viele Sportarten getestet und lieben gelernt hat. Aufgrund eines fordernden Bürojobs suchte S immer wieder nach sportlichem Ausgleich, sei es im hochalpinen Bergsport, dem Klettern (Seil am Berg), dem Tauchen oder auch dem Spinning. Beim Spinning fing sie 2001 Feuer – machte eine Trainerausbildung und war lange sechs Jahre fünf Tage in der Woche als Spinning-Instructor in einem Fitnessstudio aktiv. Nach ihrem Umzug nach München fielen diese Trainerstunden aus Zeitgründen weg und sie musste sich neu orientieren. Als erstes wurde ein eigenes Spinningbike angeschafft … Ihr Vater (selbst Rennradler) war es schließlich, der bei ihr 2012 die Liebe zum Rennrad weckte. S fährt seitdem Rennrad und bereits seit 2012 Radrennen. Die Vätternrundan war 2016 ihr heimliches Ziel – fürs erste. Es werden ganz sicher noch einige folgen. Projekte gibt es schon mehrere – und die wollen schließlich auch verwirklicht werden!
Genial geschrieben. Macht Lust das auch einmal zu Erleben!
Es ist eine tolle Veranstaltung, die man erlebt haben sollte. Solveig bringt das prima rüber :-).