Mein ganz persönlicher Bericht über ein langes Berlinwochenende
Ein Gastbeitrag von Matthias Schmitt
Mittlerweile ist es Montag. Und wie viele wissen, sind Montage die Sonntage des Radrennfahrers. Ausruhen, Wunden lecken, die Freude, das Leid, den Schmerz, Höhen und Tiefen des vergangenen Sonntags und der drei oder mehr Stunden Revue passieren lassen.
Also, wie war nun mein persönliches, erstes Velothon in Berlin? Hat es sich gelohnt? Würde ich es wieder tun? Was ist übers Wochenende geschehen?
Antworten auf diese Fragen und noch mehr, finden sich gesammelt in diesem Erlebnisbericht.
Die Geschichte dieses Wochenendes beginnt, wie so viele Radsportgeschichten, früh, sehr früh. Genauer gesagt freitags morgens um 3 Uhr. Wer außer Radsportenthusiasten , Bäckern, Rettungssanis und Polizisten ist schon so verrückt um diese Zeit aufzustehen und dann auch noch den Fuß vor die Tür zu setzen?
So machte sich also ein Bremer nach ausgiebigem Frühstück um viertel nach vier auf den Weg zum Bremer Hauptbahnhof, um pünktlich um 5 Uhr seinen Zug nach Hamburg und von da aus nach Berlin zu erwischen.
Alles lief wie geplant und in Hamburg sprach mich eine Radlerin an, die ich wegen des Rads und des Gepäcks eher als Reiseradlerin eingeschätzt hätte. „Du fährst sicher die 120?“ Wie sich herausstellte, war Silke aber zum 60 km Velothon vom Team Skoda eingeladen worden und feierte an diesem Wochenende mit ihrem Fitnessbike die Rennpremiere. So kann man sich täuschen.
Die nächsten drei Stunden Fahrzeit vergingen wie im Flug, wir unterhielten uns sehr gut und ich freute mich ihr einige Fragen zu Klamotten und anderen Dingen fürs Radeln beantworten zu können.
Leider behielt der Wetterbericht recht und Berlin empfing uns recht kühl, grau in grau und mit sehr ungemütlichem Nieselregen. Also Augen zu und durch, den unbekannten Weg nach Neukölln zu meiner Gastgeberin Jennie gesucht.
Die mit meinem Bremer Radkollegen Joey verabredete Nachmittagstour wurde dann wetterbedingt auch auf den Abend verschoben, der dann aber in warmem Sonnenschein erstrahlte.
Da ich bis zu diesem Freitag gut zehn Tage nicht mehr auf dem Rad saß, war ich gespannt, wie es um meine Form bestellt war. Und tatsächlich, ich hätte gefühlt fast explodieren können. Wir fuhren die Velothon-Strecke zum Grunewald raus ab und lieferten uns teils Rennen mit den Autos. Druck war enorm viel vorhanden und so wurde aus der eigentlich als ruhige Runde geplanten Tour ein Stop-and-Go-Ampelsprint mit einigen, für die Geschwindigkeit, längeren Tempo 45-50 Passagen. Wie sich später zeigte, keine gute Idee – aber wenn einen der Hafer sticht … Ihr kennt dieses Gefühl sicher auch alle. Hat uns beiden jedenfalls sehr viel Spaß gemacht.
Der Samstag begann nach kurzer, wegen des belebten Hauses und einer im Innenhof ständig benutzten Haustür, nicht besonders erholsamen Nacht, freundlich und mit viel Sonne.
Gegen Mittag hatte ich mich noch mit Kai und seiner Freundin zur Fahrradmesse verabredet, die im Rahmenprogramm des Velothon stattfand. So schlenderten wir gemeinsam durch die Reihen, wo wir noch Jörn, eine(n) der Bremer Raketen und späteren 8. der Gesamtwertung, trafen. Er berichtete mir vom Canyon-Stand, wo ein Wahoo Kickr aufgebaut war und man Zeiten vorlegen konnte.
Das weckte meinen Ehrgeiz und ich versuchte mich daran, seine Zeit zu schlagen. 1:51 auf einem ansteigenden Stück musste doch zu kontern sein. Es lief auch ganz und ich war zeitlich einen Tick voraus, bis ich mich wegen der ungewohnten DI2 an einem Steilstück gleich vier Mal verschaltete und mir der Motor platzte. Aber ok, 2:00 sind jetzt auch nicht wirklich schlecht. Der Hammer kam aber erst, nachdem ich nach einer Stunde wieder zurück zum Stand kam. Zwischenzeitlich war Erik Zabel (der mehrmalige Tour Teilnehmer und ex-Telekom Fahrer) gefahren und ich lag nur 8 Sekunden dahinter. Jörn lag sogar eine Sekunde davor. Klasse Leistung, Jörn!
Den Restsamstag nutzte ich für eine kurze, gemütliche Runde übers Tempelhofer Feld, Kais Einladung (Danke!) zum abendlichen Burgeressen beim Burgermeister (sehr gute Burgerbude am Schlesischen Tor) und letzten Rennvorbereitungen.
Eine gewisse Grundanspannung stellte sich jetzt schon ein und ließ mich noch eine Weile Schäfchen zählen.
Der große Tag
Wieder mal früh aufstehen. 5:30 Uhr, das am Vorabend eingeweichte Müsli gegessen, Flaschen gefüllt und noch ein wenig im Internet gesurft. Der Aufbruch war eigentlich erst gegen halb acht geplant, aber die Hummeln im Hintern ließen mich verflixt nochmal einfach nicht mehr still sitzen.
Am Start eingetroffen, wunderte ich mich, dass es schon sooo voll war und ich sortierte mich erst einmal in meinen Startblock C ein, bis mir auffiel „Whoops, du bist ja viel zu früh. Das sind die 60km Starter.“ Also wieder raus, Espresso getrunken und sich hinterher etwas warm gefahren.
Zum richtigen Zeitpunkt reihte ich mich dann wieder ganz vorn im Startblock ein und versuchte ein paar Mitstreiter für meine Taktik zu gewinnen.
Kai hatte mir erzählt, dass er als Mehrfachstarter mit einem Schnitt von ca. 37 km/h bisher immer im C-Block einsortiert wurde. Damit war mir schon am Samstag klar, dass ich unbedingt versuchen sollte, zumindest einen Teil des 2 min eher gestarteten B-Blocks einzuholen, wollte ich auf meine Zielzeit von unter 3 Stunden bzw. meine Wunschzeit von 2:45-2:50h kommen (das die erst gedachten 2:30h unrealistisch sind, weiß ich nach den Rennergebnissen).
Die Taktik für das Rennen bestand also darin, sofort nach dem Start zu attackieren, den Großteil des vor uns stehenden Skoda-Blocks hinter mir zu lassen, um den Ziehharmonikaeffekt auf dem Stadtteil des Kurses zu minimieren und einige zum Ausreißen zu bewegen. Dann bis über die Hügel des Grunewalds das Tempo zu halten, einige von den B-Startern zu kassieren, um sich dann im Feld für eine letzte Attacke 5-10 km vor dem Ziel auszuruhen.
Mit ein paar Italienern direkt hinter mir war ich recht schnell einig, da sie ebenfalls nicht lange in der Gruppe des Blocks bleiben wollte.
Bis zum Start waren es noch ca. 30 Minuten. Innerlich die totale Unruhe. In mir tobte quasi ein kleiner Sturm der Nervosität. Mit jeder weiteren Minute steigerte sich die Spannung bis ins Unermessliche.
Um genau 9:19 Uhr war es dann endlich so weit. Der Skoda Block und auch wir durften insgesamt vier Minuten nach den A und 2 Minuten nach den B-Startern auf die Strecke.
The Race is on!
Wie geplant gab ich meinem Rad sofort die Sporen und zog mit 50 km/h im Maximum links am ganzen Feld vorbei, setzte mich an die Spitze und hatte auch sofort einige hochmotivierte Fahrer hinter mir, die die Straße des 17. Juni herunter durch die Stadt das Tempo immer schön bei um die 40-45 hielten.
An der Westendquerung, dem Übergang von Charlottenburg zum Westend hatten wir dann schon die ersten B-Fahrer eingeholt und verloren auch bei dem dort auftauchenden ersten ~1,5 km langen Hügel hinauf kaum an Tempo.
Bis raus nach Ruheleben verläuft die Strecke hier auf einer sehr gut ausgebauten, teils dreispurigen Hauptverkehrsstraße mit seidenglattem Asphalt und knickt hier nach links auf eine einspurige Seitenstraße ab, um dann in einem grünen Waldstück am Wannsee entlang in die Hügel des Grunewalds anzusteigen.
An der bei der freitäglichen Voraberkundung als gefährlich ausgemachten Einbiegung zum Wannsee sah ich dann leider auch schon den ersten Radler nach einem Sturz (?) am Straßenrand stehen. Es sollte nicht der letzte und nicht der harmloseste des Tages bleiben.
In den Hügeln erwischte es mich leider nach knapp 20 Kilometern selbst. Ganz links fahrend war ich einem Mitfahrer trotz knapp 40 km/h anscheinend zu langsam. Er meinte sich noch vorbeidrängeln zu müssen.
Dabei touchierte er mich. Ich stürzte, landete zuerst auf dem linken Knie, dann den Schultern und dem Kopf. Zum Glück alles mehr oder weniger im Straßengraben und somit mit Dämpfung durch das dort herumliegende Laub.
Nach kurzem Schock stellte ich fest, dass ich viel Glück gehabt hatte. Das Knie zwar mit drei einzelnen, stark blutenden Schürfwunden lädiert, aber ansonsten blieb am Rad und mir selbst alles heil.
In dem Moment hätte ich am liebsten aufgegeben, weil ich vorher so viel investiert hatte, zu Anfang möglichst viel Zeit herauszufahren. Jetzt saß ich im Graben, die schnelle Gruppe weg und um mich herum niemand in Sicht, der das angedachte Tempo mitgehen wollte oder konnte. Ein absoluter Frustmoment.
Wenn ich mein Material nicht selbst zahlen müsste, hätte ich mein Rad wohl wie einst Marcel Kittel im Stile des „Hulks“ auf den Boden geschmettert. Bis dahin hatte ich für solche Aktionen kein Verständnis – kann sie aber nun voll nachvollziehen.
Keine Ahnung wie viel Zeit in dieser Situation verstrich, es schien aber ewig zu sein.
Aufgeben war dann aber doch das letzte was ich mir vorstellen konnte. Also rauf auf’s Rad und mit Tempo der leider schon längst außer Sichtweite geratenen Gruppe an die Fersen geheftet. Während dessen hatte ich immer wieder die Hoffnung, jemand würde sich mir anschließen. Aber niemand fasste sich ein Herz, sich an mein Hinterrad zu kleben.
Mental begrub ich damit schon beinahe die Chance, überhaupt noch ansatzweise in meiner gewünschten Zeit das Ziel zu erreichen. Da überholte mich plötzlich ein Fahrer mit sehr ordentlichem Tempo.
„Jetzt oder nie!“, war mein Gedanke und ich verbiss mich an seiner Sechs. So fuhren wir zu zweit in mitunter beinahe wahnsinnigem Tempo, bis über 50 km/h, abwechselnd führend und unzählige Fahrer überholend, einige Kilometer zusammen durch Teltow und Kleinmachnow. Irgendwann war aber der Punkt erreicht, wo wir auf ein großes Feld trafen, dem wir nicht mehr ausreißen wollten – und ich auch nicht mehr konnte. Die Aufholjagd hatte die Kraft gekostet, die ich mir eigentlich für die letzten Rennkilometer aufsparen wollte.
Hier rächte es sich wohl, Freitag nicht die Füße hochgelegt zu haben. Komplett frisch wäre da wohl noch etwas gegangen.
So schaltete ich dann auf „Dranbleiben und Abschließen“ um. Hauptsache unter drei Stunden bleiben und das Rennen zu Ende fahren!
Der Kurs verlief jetzt mehr und mehr ins Ländliche mit vielen langen, geraden Abschnitten, einige Kreisverkehren und Verkehrsinseln.
Dazu leider auch ein, zwei Situationen mit Motorrädern der Polizei, die mit sehr hoher Geschwindigkeit ungebremst links am Feld vorbei pflügten. Dabei musste ich unweigerlich an die vergangenen Unfälle im Profisport in Zusammenhang mit rücksichtslosen Begleitmotorrädern denken. Nicht so schön.
Außergewöhnlich wurde die Streckenführung ab Ludwigsfelde, wo es auf eine komplett abgesperrte, autobahnähnliche Bundesstraße ging, die uns in flottem Tempo über Marienfelde zurück führte.
Ein Highlight war die Fahrt übers weite Rund des Tempelhofer Felds. Viel Wind, viel Platz zum Überholen, aber auch eine gefährliche, knifflige Ein- und Ausfahrt.
Ab Kilometer 100 wurde es dann wieder richtig interessant und auch fahrerisch etwas anspruchsvoller, da die Strecke durch Neukölln, und die restlichen 14 Kilometer, nach langen Geraden, immer wieder 90° Haken schlägt.
Am Hermannplatz wurde das Feld aufgrund eines tragischen, leider schweren Unfalls, und quer über die Fahrbahn stehenden Rettungswagens, stark heruntergebremst. Später las ich in der Zeitung, das ein unachtsamer Fußgänger beim Überqueren der Strecke von einer Radlergruppe erfasst und schwer verletzt wurde.
Streckentechnisch war die Überquerung der Oberbaumbrücke und die Fahrt entlang der berühmten, an diesem Tag von vielen Touristen bevölkerten East-Side-Gallery ein zusätzlicher Höhepunkt.
Unterdessen war mein Akku so weit leer, dass an Sprints nach Kurven nicht mehr zu denken war. Die Beine brannten, ich hatte Mühe im Windschatten ~37-38km/h zu halten. Die Trinkflaschen längst leer, alle Gels verbraten – der Motor lief zwar noch, aber stotterte gelegentlich. Beim Roulette würde man jetzt sagen „Rien ne va plus” – nichts geht mehr.
Die erlösende Zielgerade wurde nicht nur von mir sehnsüchtig erwartet. Ein Fahrer neben mir meinte nur “Von mir aus könnte es jetzt schon vorbei sein.” Im Stillen musste ich ihm zustimmen.
Aber Zähne zusammen beissen, weiterfahren! “Shut up legs!” Zwar nicht mehr schnell fahren, aber ankommen. Mit Willen geht dann doch noch ein was.
Am Ende fuhr ich mit einer Zeit von 2:57:36h, als 236. von 1063 Fahrern meiner Altersklasse ,über die von vielen Zuschauern gesäumte Ziellinie. Da ich dies zu dem Zeitpunkt aber noch nicht wusste, war ich vom Ergebnis deutlich enttäuscht und meine Stimmung eine Mischung aus Freude über den Abschluss des Rennens und dem Gefühl, dass mich der Sturz zu viel Kraft gekostet und das Rennen deutlich zu meinen Ungusten beeinflusst hatte.
Das Gefühl, alles gegeben, aber für den eigenen Anspruch und die Möglichkeiten zu wenig erreicht zu haben, ist nicht schön.
Nach dem Zieleinlauf traf ich die Italiener vom Start wieder, von denen sich einer zuerst vielmals bei mir entschuldigte, da er es wohl war, der meinen Sturz verursacht hatte. Es tat ihm aufrichtig Leid. Aber so was passiert halt mal im Rennen. Vergeben und vergessen!
Plötzlich erspähte ich in der Menge eine wohlbekannte Truppe aus heimischen Gefilden. Jörn, Bo und Tim vom Radclub Bremen hatten ebenfalls ihr Rennen abgeschlossen und standen Bier trinkend und fröhlich den Rennverlauf diskutierend, in der warmen Berliner Junisonne.
Also gesellte ich mich dazu. Wir schossen ein paar Erinnerungsfotos, während dessen ein Mitarbeiter des Velothon-Teams mit einer Videokamera vorbeilief und uns filmte. Die Aufnahmen fand ich mit Erstaunen später am Abend im Abspann des offiziellen Velothon-Abschlussvideos. Daumen hoch und vielen Dank nach Berlin!
Telefonisch musste ich leider erfahren, dass Kais Rennen nicht gut verlaufen war. Nach 70 Kilometer war er in einen Sturz verwickelt worden. Dabei hatte er sich das Knie so lädiert, dass auch er sich bei dem Versuch wieder heranzufahren, völlig verausgabte.
Den Restsonntag verbrachte ich mit ausgiebigem Essen, etwas Schlafen, Packen und Kraft Tanken, für die 4 Stunden lange Heimreise mit der Deutschen Bahn.
Ihr glaubt gar nicht, wie gut man in völlig fertigem Zustand auf den unbequemen Stühlen des Regionalexpress schlafen kann. Am Ende des Tages fiel ich, total geschafft, um halb zwei am Montagmorgen ins Bett.
Mein Fazit
Unterm Strich war es ein sehr schönes Wochenende. Viel Spaß, viele bekannte und einige neue Gesichter getroffen bzw. besser kennengelernt. Auch der Mann mit dem Hammer war mir sonntags so nahe wie lange nicht mehr.
Trainingstechnisch würde ich nach dieser Erfahrung sicher wieder ca. eine Woche Pause vor einem Rennen machen, aber auf keinen Fall 48h vorher intensiv trainieren. Das hat mich wohl einiges an Form gekostet.
Das Berliner Rennen wird für mich zukünftig eine absolute Pflichtveranstaltung. Schöner Kurs, super Organisation, schöne Messe. Ich komme wieder.
Nächstes Jahr ist es mein Ziel, ohne Sturz die TOP 100 meiner AK zu erreichen.
Danken möchte ich an dieser Stelle zuerst meiner Gastgeberin Jennie, Garmin für die Bereitstellung der Garmin Virb X Kamera, dann den Jungs vom Canyon Stand für die Spacer und den Support in Sachen Schaltung, dem Veranstalter für die Erlaubnis zur Einbindung des Videos, die super Orga und den Bremern, allen voran Joey und Kai für die gute Zeit in Berlin!
Das Video wurde uns dankenswerter Weise vom Veranstalter zur Verfügung gestellt.
Links
Velothon Berlin
Canyon
Garmin
Mein Ergebnis @Mikatiming
Strava
Entdecke mehr von CyclingClaude
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.