Gravelbike-Test in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

Alter Schwede, dachte ich, als ich heute früh die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung aufschlug. „Kommt ins Schottern“ titelte es auf der Seite „Technik&Motor“.
Mit der Freude war es aber schnell vorbei!
„Gravelbikes sollen die Lücke zwischen Straßenrenner und Cyclocrosser füllen. Ob das gelingt?“, fragt Autor Martin Häußermann. Ja verdammt, warum testet er dann ein Cyclocross-Rad und verkauft es uns als Gravelbike?

Gravelbikes sind eine eigene Kategorie!

Gravelbikes, vor einigen Jahre noch die Exoten unter den Fahrrädern, findet man heutzutage – und die Eurobike 2017 hat das gerade gezeigt – bei vielen Fahrradmarken.
Dann gibt es aber auch Marken, die für das Gravel-Segment immer noch keine Antwort haben. Stattdessen wird dem Kaufinteressenten verklickert, dass der hauseigene Cyclocrosser eigentlich auch ein Gravelbike sei, weil Gravelbikes nur  alter (Cyclocross-)Wein in neuen Schläuchen wären.
So macht das u.a. Rose mit seiner Cross-Serie, und wird trotz „sportlicher Geometriedaten“, von Fachzeitschriften bei Gravelbike-Tests immer weit vorne gesehen. Warum eigentlich? Weil man viel Printwerbung schaltet?
Stevens, eine Marke mit vernünftigen Bikes, macht es im Gravelsektor ähnlich. So platziert der „Stevens Pressemann“ Carsten Schabacher sein Cyclocross-Rad Stevens Super Prestige Disc Ultegra mit den Worten „Auch wenn mit diesem Rad schon Crossrennen gewonnen wurden, ist das Super Prestige doch ein höchst vielseitiges Bike.“ Durch Spacer und Vorbaulänge, so liest man im heutigen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, sei das Rad individuell anpassbar und deshalb auch „flott über Schotter … zu bewegen“.
Ach komm? Das ist ja eine sagenhafte Neuigkeit. Man kann Fahrräder über Spacer und Vorbauten anpassen?
Getestet wurde das Stevens Super Prestige für den Artikel übrigens gegen das Salsa Warbord Carbon Rival, also eins der Urväter im Gravelbereich.
So richtig getestet wurde dann aber nicht, bzw. man findet wenig dazu im Artikel der Sonntagszeitung. Beide Räder wurden etwa 300 km auf Asphalt, Wald- und Wiesenwegen bewegt. Schön und gut. Und gute Beine braucht man auch, wenn man eine Tour über 100 km fahren will. Aber sonst fühlt man sich pudelwohl. Aha!
Bla, bla, bla. Wahrscheinlich darf man bei einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung nicht mehr erwarten.

Die Krone aufgesetzt

Eins setzt dem ganzen zum Schluss dann aber doch die Krone auf, weshalb ich meinem Ärger Luft machen muss.
Weil sich lt. Autor die beiden Räder als ebenbürtig erwiesen haben, was ich gar nicht hinterfragen möchte, musste ein anderes Kriterium her. Die Sitzposition. Sie war für den Autoren beim Salsa nicht optimal.
Da muss ich sagen, liebe Leser der Frankfurter Sonntagszeitung, lasst Euch nicht veräppeln!
Das Stevens hatte Rahmenhöhe 50, das Salsa kam als 51er und war „einfach einen Tick zu groß“.
Nicht wirklich, lieber Martin Häußermann, oder?
Schaut man sich die Geometriedaten beider Räder an, reibt man sich nämlich die Augen.

LInks: Stevens Super Prestige / Rechts: Salsa Warbird

Ob ein Rahmen passt, kann man an den Stack- und Reach-Werten ablesen.
Zu groß fühlt sich ein Rahmen v.a. dann an, wenn man zu gestreckt sitzt, also der Reach-Wert zu groß ist.
Das Stevens hat in Rahmenhöhe 50 einen Reach von 375 mm. Das 51er Salsa knapp 369 mm. Damit ist das Salsa also 6 mm kürzer als das Stevens.
Im Artikel konnten wir lesen, dass der Autor am Stevens einen kürzeren Vorbau angebracht hat. Vermutlich, so die Fotos im Artikel, einen 70er. Original kommt das Stevens nämlich mit einem 80er.
Am Salsa ist aber schon ab Werk ein 70er verbaut.
Einziger Unterschied: Die Fotos in der Zeitung zeigen, dass der Vorbau am Stevens positiv (+6°) und am Salsa (-6°) angebracht ist. Dadurch wird das Stevens lt. Stem-Comparison-Tool genau 5 mm kürzer und kommt damit fast auf dieselbe Länge wie das Salsa. Auf dem Papier bleibt das Stevens 1 mm länger. Das merkt man aber nicht mehr.
Schauen wir uns nun noch für einen Spaß die Stack-Werte der Räder an. Der Stack ist v.a. für den Komfort zuständig. Je mehr Stack, desto geringer ist die Sattelüberhöhung.
Das Stevens kommt lt. Geometriedaten auf 519 mm, das Salsa auf knapp 528 mm, baut also fast einen Zentimeter höher. Ab Werk hat das Salsa also eine komfortablere Sitzposition.
Auch hier hilft uns das Stem-Comparison-Tool. Weil der Vorbau beim Stevens auf +6° gedreht ist, gewinnt das Stevens 13 mm zum Stack hinzu. So wird das Stevens knapp 4 mm höher.
Auf den Fotos in der Zeitung (die ich aus Gründen des Urheberrechts nicht zeigen darf) sieht man, dass beide Testräder mit hohen Spacertürmen ausgestattet sind. Beim Salsa vermute ich gar, dass der Spacerturm noch etwas höher ist. Hat Herr Häußermann dadurch die 4 mm wieder ausgeglichen und sind beide Räder somit identisch hoch? Aber selbst falls nicht, der Höhenunterschied macht kaum was aus. Jedenfalls nicht so viel, dass man das Rad als „einen Tick zu groß“ bezeichnen könnte.
Ich kenne Herrn Häußermann nicht, wäre aber interessiert zu hören, was er dazu sagt.
Das Stevens macht er mit Vorbaulänge und Drehung vermeintlich passend, beim Salsa kommt er aber nicht auf die Idee, den „Tick“ Unterschied anzupassen … falls es in den Maßen überhaupt einen Unterschied gab.

Was hätte man sonst gerne gelesen?

Vielleicht, dass es bei Gravel und Cyclocross nicht unbedingt Carbon sein muss. Das wird zum Ende des Artikels sogar angerissen. Aber warum Alu oder Stahl durchaus o.k. ist, das steht da nicht. Stattdessen wird geraten, selbst zu prüfen, ob vielleicht auch ein Alu-Rahmen reicht. Wie prüft der Leser das? Indem er ins Portemonnaie schaut?
Auch ein Hinweis bzw. eine Erklärung zu hydraulischen und mechanischen Scheibenbremsen wäre sinnvoll gewesen – selbst für Leser der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Mehr zu Fahrradgeometrie

http://cycling.claude.de/2017/03/03/bikefitting-teil-5-geometrie-verstaendlich/


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