Langer Bericht von der Vätternrundan

Die Vätternrundan 2012 war für mich eine Grenzerfahrung, wegen des sehr schlechten Wetters. Noch auf der Fähre schrieb ich meinen Bericht, der immer länger wurde. Seither hatte ich ihn nicht mehr angeschaut, will ihn aber nun veröffentlichen, so wie er ist, untstrukturiert und sicher voll von Schreib- und Grammatikfehlern, aber auch Emotionen:
Hammer. Was war das denn für eine Fahrt? 23.000 Teilnehmer waren gemeldet, für die größte Radveranstaltung der Welt, die 47. Vätternrundan. Nur knapp 20.000 kamen dann zum Start, der wie immer in Gruppen über die ganze Nacht verteilt erfolgte.
3.000 Leute kniffen also von Anfang an, weil sie Angst vor Regen und Wind hatten. Regen war nämlich angesagt, zumindest ab dem ganz frühen Morgen, auf der ganzen Westseite des Sees, über die Nordspitze, bis hin zum Start/Ziel in Motala.
Gegenwind sollte laut Wetterbericht schon vom Start weg herrschen.
Den Wetterbericht auf www.no.yr hatte ich schon die ganze Woche beobachtet und gehofft, dass das Wetter nicht so schlimm wie zum Halvvättern werden würde, wo ich die Hälfte der Strecke klatschnass im Kalten fahren musste. Aber das waren ja nur 80 km Qualen. Bei der Vätternrundan ist es aufgrund der Streckenlänge möglich, dass man viel länger im Nassen fahren muss.  Hinzu kommt, dass es in der Regel nachts ziemlich kalt wird.
Regen und Kälte auf einem langen Streckenabschnitt wäre fatal, dachte ich die ganze Woche, die ich im Zelt in Motala verbrachte. Direkt an der Torauslinie des zweiten Trainingsplatzes der Motala BK Zeros konnte ich hautnah erleben, wie das mit dem schwedischen Sommerwetter sein kann. So an die 18 Grad kann es schon einmal werden, wenn es ein sonnenklarer Tag ist. Dann hält man es in der direkten Sonne kaum aus, so sehr brennt sie herunter. Genau so gut kann es aber dunkel bewölkt, regnerisch und windig sein, bei 10 bis 15 Grad. Beide Wetterzustände können während des Tages mehrfach wechseln.
Nun, trotz der schlechten Wetteraussichten war ich zuversichtlich, dass es nicht haargenau so kommen würde, wie es vorhergesagt war.
Dennoch hatte ich mir während der Woche auf der Bikemesse in Motala eine neue Gore-Tex-Regenjacke von Gore Bike Wear gekauft, da der Reißverschluss meiner alten Regenjacke beim Halvvättern den Geist aufgegeben hatte.
Lange hatte ich gehadert ob ich das Geld investieren soll, aber das nette Gore-Personal, das übrigens extra aus Deutschland zur Vätternwoche nach Schweden angereist war, hatte mich dann doch von den Vorzügen der Jacke überzeugt: Komplett wasserdicht, atmungsaktiv, lange Ärmel, die über die Hände gehen, sehr dünn und sehr klein zusammen faltbar.
Nun, zurück zur Rundan. Ich war um 23:40 Uhr an der Reihe. Warm eingepackt stand ich am Start; zu warm eigentlich.
Meine Füße steckten in Craft-Wollsocken, die ich schon im letzten Jahr bei der Rundan und dieses Jahr beim Halvvättern getragen hatte. Die Schuhe waren durch gefütterte Shimano-Regenüberschuhe gesichert. Weiter aufwärts sah es folgendermaßen aus: Skins Wadenkompressionsteile (also Strümpfe ohne Fußteil), Knielinge, warme Assos-Roubaix-Dreiviertelhose, kurzes Unterhemd, langes Unterhemd (von Craft, sehr warm), kurzes Windstopper-Trikot, Langarmtrikot und dünne Löffler-Windstopperjacke.
Den Regenschutz, also die Gore-Jacke, eine kurze Regenhose und eine Duschhaube aus dem Hilton Tokio hatte ich in der Jackentasche.
Dick angezogen war ich also. Nur die langen Windstopper-Handschuhe hatte ich nicht an, wohl aber dabei.  Obwohl es beim Start nur 12 Grad waren, wollte ich anfangs über Fingergefühl verfügen, um besser an meine Powerbar-Riegel zu kommen, die ich in der Oberrohrtasche hatte. Mit langen Handschuhen hätte es vielleicht Probleme geben können – und zum Essen wollte ich auf gar keinen Fall anhalten müssen.
Da ich in jedem Fall unter 12 Stunden bleiben wollte, plante ich,   die Pausen auf ein Mindestmaß zu reduzieren und im Idealfall eine Einstoppstrategie (Wasser holen bei km 148) zu fahren; von den Pinkelstopps mal abgesehen.
Neben drei vollen Wasserflaschen (2,5 ltr.) hatte ich 12 Gels und fünf halbierte Powerbar-Riegel dabei.  Das musste reichen.
In meiner Startgruppe war ein norwegisches Paar, das auf teuren Cervelo-Rädern von Anfang gut Tempo machte. Der Mann war im Wind, die Frau dahinter und ich an Nummer drei. Gemütlich hatte ich es mir da eingerichtet und 50 Minuten einen 30er Schnitt fahren können, ohne zu ermüden.
Ziemlich dunkel war es, weil bewölkt, und somit ziemlich anstrengend. Ich fand es immer erholsam, durch eine Ortschaft zu fahren, die voll beleuchtet war. Außerdem hatte man dann etwas Ablenkung, weil Anwohner am Straßenrand feierten, applaudierten und uns anfeuerten. He-ja, he-ja.
Nach 50 Minuten im heftigen Wind war der arme Norweger wohl ziemlich am Ende. Er ließ sich auf meine Höhe zurück fallen und fragte, ob ich nach vorn gehen wolle. Was sollte ich also tun. Kurz umgeschaut sah ich, dass unsere Gruppe auf ca. 20 Fahrer angewachsen war. So war ich frohen Mutes nicht zu oft Führungsarbeit leisten zu müssen.
Einige Kilometer kämpfte ich an vorderster Front, bevor ich links raus fuhr, um den nächsten ran zu lassen. Was aber sah ich? Hinter mir waren gleich wieder die beiden Norweger. Die hatten sich nicht ganz hinten einsortiert. Warum, das merkte ich dann gleich selbst. Die Norweger fuhren voran und die Gruppe machte mir platz, damit ich wieder an drei reinkommen sollte.
Ziemlich böse winkte ich die Gruppe an mir vorbei, um ihnen klar zu machen, dass der Führende ganz hinten wieder rein geht. Ob die Gruppe das verinnerlichte, konnte ich aber nicht mehr nach verfolgen.
Wir waren etwa 40 km gefahren und ich hatte einen 30,5er Schnitt auf dem Tacho. Kurz vor dem ersten Depot (Hästholmen) auf einer schönen Abfahrt, tat es einen Schlag und ich hatte etwas verloren. Aber was? Ich kontrollierte die Flaschen – alle noch da. Ich blickte nach unten, vor den Lenker und – oh Schreck – die Videokamera war nicht mehr auf dem Halter. Kurz nachdenken. ‚Was machst Du jetzt? Es ist dunkel. Umkehren und suchen macht wenig Sinn, v.a. weil so viele Radler auf der Strecke sind. Aber 250 EUR liegen lassen? Oh Mann. Aber kaputt ist sie doch sowieso. Du verlierst doch so viel Zeit. Außerdem bist Du schon zu lange weiter gefahren.’
Griff an die Bremsen, umgeschaut, das Fahrrad umgedreht und in der Dunkelheit zurück gelaufen. Mit jedem Meter schwand die Hoffnung, die Kamera jemals wieder zu finden. Links von mir, also am rechten Straßenrand wuchs das Gras meterhoch. Wenn die da hin geflogen war, no chance. Aber ich stiefelte weiter und weiter. Nach fünf Minuten, oh Wunder, sah ich sie dann doch noch. Sie lag nur 20 cm vom Straßenrand entfernt. Puh. Aber die Rückseite war offen und der Akku nicht mehr da.  ‚Den auch noch suchen? No way.’
Die Kamera kam, so wie sie war, irgendwo in die Rückentasche eines der unteren Trikots und ich ging wieder aufs Rad.
Aber ich war alleine auf weiter Flur. Mit einem 30er Schnitt fuhr ich weiter. In der Hoffnung auf den nächsten Zug sprang ich von Kleingruppe zu Kleingruppe, die teilweise mit Treckingrädern unterwegs waren. Aber ein neuer Zug kam nicht. So verlor ich  zusätzlich Zeit zu den 10 Minuten die die Kamerasuche gekostet hatte.
Zehn Kilometer fuhr ich so, bis ich auf eine Gruppe auffuhr, die so mit 28 km/h unterwegs war. Ich gruppierte mich ein, denn alleine mit 30 km/h fahren und nach 100 km platt sein ist selten dämlich.
Leider bestand die Gruppe nur aus Gelegenheitsradlern, was man an den Rädern, der Ausrüstung der Radler und vor allem am Fahrstil erkennen konnte.
Vor mir fuhr ein Riese auf einem älteren Rennrad. Die Schuhe sahen von unten wie Gummistiefel aus. Klickpedale sah ich keine. Ein Rücklicht hatte er auch nicht. Der vor ihm aber schon. Eines das für beide leuchtete und auch noch so angebracht war, dass es im 45-Grad-Winkel nach oben strahlte. Immer wenn der Gummistiefelmensch nach rechts aus der Spur kam, knallte mir die Leuchte seines Vordermanns in die Augen, so wie wenn bei einem Auto die Nebelrückleuchte eingeschaltet wird.
Anstrengend war das, zumal es fast nur durch dunklen Wald ging und teilweise drei unterschiedlich schnelle Gruppen auf der Straße waren. Höchste Konzentration war gefordert, und das zu einer Zeit, wo ich normalerweise im Tiefschlaf liege.
Hinzu kam der unkonventionelle Fahrstiel der unerfahrenen Radler. Statt ruhig und kontinuierlich zu treten, wurde immer ein paar Sekunden schnell gestrampelt und dann wieder gar nicht. Das führte zu so eine Art Ziehharmonikaeffekt und ich musste höllisch aufpassen, dem Vordermann nicht ins Hinterrad zu fahren.
Das ganze war sehr ermüdend und ich hoffte, dass die Nacht bald zu vorüber wäre. Aber es war erst zwei Uhr. Kurz vor Gränna, dem 2. Depot, kam die Erlösung. Vier schnelle Radler überholten die Gruppe und ich heftete mich dahinter.  Eigentlich waren die Jungs zu schnell für mich, um lange hinten dran zu bleiben, aber ich war froh, dass sie ebenfalls das Gränna-Depot liegen ließen und nicht anhielten. So ballerten wir zu fünft weiter, ohne dass ich Führungsarbeit leisten musste. Als wir so etwa bei Husquarna waren, wurde es langsam ein wenig hell. Dann kam die lange Abfahrt nach Jönköping mit Blick auf den See. Tolle Aussicht. Vielleicht dachte sich das auch mein Vordermann. Fast touchierte er das Hinterrad seines Vordermannes und ging kurz voll in die Eisen. Wäre ich nicht so hellwach gewesen, wer weiß, was bei über 60 km/h hätte passieren können.
In Jönköping waren Besoffene auf der Straße, die uns anfeuerten. Ich fuhr immer noch in zu hohem Tempo der Vierergruppe hinterher.  Aber endlich waren mehr Radfahrer auf der Strecke, die sich um uns herum gruppierten. So konnte ich mich endlich einigen anderen anschließen, die geringfügig langsamer fuhren, um nicht noch mehr zu überpacen.
Herrlich war der Blick zum Horizont, wo sich der Sonnenaufgang in einem kleinen roten Streifen zwischen Hügeln und Wolken ankündigte. Wow.
Eigentlich war für diese Uhrzeit für die Südspitze des Vätternsees Regen angesagt. Den hatten wir aber nicht, sodass sich Zuversicht breit machte.
Im Kampf mit der Nacht hatte ich nur Gels genommen und wenig getrunken, um die Hände am Lenker zu haben. So machte ich nun eine kleine Ernährungspause auf dem Rad. Ohne Vordermann aß ich zwei halbe Riegel und trank etwas mehr, da meine Einliterflasche nach über 110 km noch nicht leer war.  Die zwei 0,7er-Flaschen hatte ich noch gar nicht angerührt.
Kaum war ich mit dem Essen fertig, auf eine neue Gruppe lauernd, bekam ich die ersten leichten Tropfen ab. Na ja, ein wenig Regen ist ja nicht so schlimm – dachte ich. Noch 20 km bis zum Depot Fagerhult, an dem ich vorbei fahren wollte und nur noch 28 km bis zur Wasserstelle, die ich als Stopp eingeplant hatte.
An einem normalen Depot wollte ich nicht raus, weil man wegen der anderen Fahrer zu viel Zeit verliert. Man muss zunächst einen Platz für das Rad finden und mit den Flaschen in der Hand zur Ausgabe latschen, was schon mal 30 Meter sein können.
Am Wasserdepot, vermutete ich weniger Verkehr und somit weniger Zeitverlust. So entgingen mir dann zwar die warme Blaubeersuppe und die leckeren Zuckerbrötchen, die es an jedem Depot gibt, aber ich wollte ja eine gute Zeit fahren.
Aus den wenigen Tropfen entwickelte sich leider in kürzester Zeit ein heftiger Regen und mir war klar, dass die Windstopperjacke nicht lange dicht halten würde. Also erst einmal Unterlenker, damit die Brust nicht so offen im Regen ist, und gebissen.
Dennoch war ich nach wenigen Kilometern klatschnass. Auch in den Schuhen Stand die Brühe, die unter der den Kompressionsteilen am Unterschenkel in die Schuhe lief. Somit waren Beine und Füße schnell ziemlich kalt.
Was mich wunderte war, dass ich nicht an den Fingern fror, obwohl wir nur noch acht Grad hatten. Offensichtlich sind blanke Finger im kalten Regen besser als Finger in klatschnassen Windstopper-Handschuhen.
So fuhr ich mit eisernem Willen Richtung Wasserdepot. Zwar war Fagerhult einige Kilometer vorher, aber ich war fest entschlossen, dort nicht zu halten. Als ich dann aber daran vorbei fuhr sah ich, dass es in Fagerhult eine kleine Halle gibt. Ich hätte mir also im Trockenen die Regenkleidung überziehen können. Kurz überlegte ich, ob ich von hinten, über die Ausfahrt rein fahren sollte, aber das traute ich mich nicht, weil dort Streckenposten standen.
So quälte ich mich acht Kilometer weiter, wieder alleine, weil alle anderen in Fagerhult rein gefahren waren.
Endlich war das Wasserdepot erreicht. Keine Menschenseele war da. Auf dem Parkplatz stand lediglich ein LKW-Anhänger mit geöffneter linker Plane. Auf dem Hänger standen zwei große Wassertanks. Das war’s. Ich lehnte mein Rad hinten an den Anhänger. Zunächst einmal die Regenjacke anziehen, dachte ich. Ich griff nach hinten und erschrak. Sie war zwar da, steckte aber nur noch zu 20 % in der Rückentasche. Mit etwas Pech hätte ich sie verlieren können. Was hätte ich dann gemacht?
Kurz durchgeatmet, Jacke und kurze Regenhose über die klatschnasse Kleidung und die Duschhaube aus dem Hilton Tokio über den Helm gezogen. Perfekt. Die kurzen Handschuhe ließ ich an. Aus der Satteltasche holte ich meine Hi5-Trinkpulverportionen. Anderthalb Flaschen waren leer. Die füllte ich wieder, was eigentlich blöd war, denn die Hälfte der Strecke war ja rum. Zwei volle Flaschen hätten sicher genügt was mir 700 Gramm Gewicht gespart hätte. Aber so weit dachte ich nicht.
Schnell wieder raus auf die Strecke. Ich hatte lediglich sieben Minuten gebraucht. Klasse. Zusammen mit der Kamerasuchpause hatte ich also gar nicht so viel Zeit verloren. Mit einem 29,5er-Schnitt auf dem Tacho war eine sehr gute Zeit möglich.
Aber natürlich machte ich mir wegen des Regens Sorgen. Wie sollte ich das mental durchhalten, wenn die Wettervorhersage eintreffen sollte?
Es gab nun nur noch Kleingruppen, die alle nicht mehr schnell unterwegs waren. Immer wenn man direkt an einem Vordermann war, spritzte das Wasser heftig von unten; von oben sowieso.
Die Gedankenspiele fingen an. ‚Über fünf Stunden sind rum. Fünf bis sechs Stunden kommen also noch. In dem Wetter? Mit den kalten Füßen und Waden? Oh Mann. 150 km Höchstqualen. Schaffe ich das? Beim Halvvättern habe ich das auf 80 km gehabt. Das war sehr hart und ich war vorher nur 70 km gefahren. Jetzt also etwa das Doppelte im Regen, mit schon doppelt so viel Kilometern in den Beinen? Schaffe ich das? Ich muss! Das wird schon.’
Kurz die Zeit hoch gerechnet. ‚Unter 11 Stunden schaffe ich locker. Vielleicht 10:30. Wie fantastisch wäre das? Also kämpfen, von Depot zu Depot, auch wenn ich nicht rein fahre.’
Zumindest als mentale Hilfestellung waren die Depots nützlich, zumal ich die Strecke kannte.
Nächster mentaler Zielpunkt: Hjo bei km 178. Hjo ist ein großes Depot mit einer Halle, wo Lasagne und Krautsalat gereicht werden. Bei meiner ersten Rundan kam ich in den ‚Genuss’ und weiß seither, dass ich so etwas nach 178 km nicht essen möchte.
Die Halle in Hjo liegt links der Straße. Rechts der Straße, bis hin zum Seeufer, kann man die Fahrräder abstellen.
Alle, aber wirklich alle, fuhren dort ins Depot. Der Zebrastreifen war voll von Radlern, zu Fuß, sodass ich anhalten musste, um durchzukommen. So was hatte ich noch nicht gesehen.
Leider kamen hinten keine Radler aus dem Depot raus. Anscheinend machten alle lange Pausen. So musste ich erst einmal alleine weiter. Hinterher erfuhr ich, dass alleine in Hjo über 1.500 Fahrer aufgegeben hatten, so leider auch meine Freunde Tino und Veit, die 30 Minuten nach mir gestartet waren. Sie waren so kalt, dass nichts mehr ging. Leider war Hjo aber so überfüllt, dass die Abbrecher draußen in Kälte und Regen warten mussten. Aufgrund fehlender Buskapazität, wer hätte mit so viel Abbrechern gerechnet, mussten viele, so auch Tino und Veit, vier Stunden (!) frierend auf den Bus warten.
Mir blieb das zum Glück erspart. Aber was noch kam, sollte nicht besser werden.
Es regnete und regnete. Teilweise sahen die Straßen wie eine schwedische Seenlandschaft aus. Und der Wind. Schlimm war, wenn mit Volldampf ein LKW entgegen kam (ja, die Straßen sind nicht komplett gesperrt). Der nachfolgende Sog zog einen fast vom Rad.
Schlimm auch, dass trotz dauerhafter Handgymnastik schon nach sechs Stunden Probleme auftauchten. Auf die Handballen konnte ich mich nicht mehr aufstützen. Wie Stromschläge durchzuckte es  diese, sobald Druck drauf kam. So klammerte ich den Lenker mit Daumen und Zeigefingern, egal ob im Ober- oder Untergriff.
Nachdem ich Hjo passiert hatte, kämpfte ich alleine weiter und hüpfte von Gruppe zu Gruppe. Nach geraumer Zeit und viel Anstrengung hatte ich eine Gruppe erreicht, die etwas zügiger fuhr. Auf der rechten Seite fuhr ein Schwede auf meine Höhe und sprach mich an. Nachdem er kapiert hatte, dass ich kein Schwedisch verstand, versuchte er es auf Deutsch. Aber er wollte gar nicht schwatzen. Stattdessen sagte er mir, dass meine Satteltasche offen war. Oh Schreck. Seit über 40 km war ich mit offener Tasche gefahren. Hoffentlich hatte ich nichts verloren, wie bspw. die teure CO2-Pumpe oder das Werkzeug von Lenzyme. Ich versuchte kurz, die Tasche während der Fahrt zu schließen, was aber nicht ging. So musste ich, schweren Herzens, die Gruppe fahren lassen. Am Wegesrand stehend, stellte ich erleichtert fest, dass ich nichts verloren hatte. Selbst die Getränkepulverbeutel waren alle noch da, auch der Beutel Hi5 Xtreme, den man nur vor dem Rennen trinken soll, oder wenn man gar nicht mehr kann. Und ich konnte mir vorstellen, dass ich bald nicht mehr kann. So leerte ich eine Flasche zur Hälfte und kippte das Xtreme einfach in das Getränk, obwohl schon normales Hi5 drin war.
Dummerweise vergaß ich zu Pinkeln, weil ich ja eigentlich noch nicht musste. Kurz darauf musste ich dann aber doch, weshalb ich wieder rechts ran fahren musste. So ein Mist.
Irgendwann hatte ich dann aber wieder Glück. Mich überholte eine Sub10-Gruppe. Voran ein paar Fahrer vom Motala-Radclub und einige, auf deren Hosen ‚Guide’ stand.
Ich klinkte mich ein, auch wenn sie eigentlich etwas zu schnell für mich waren.
25 km lang konnte ich mit dieser Gruppe viel Zeit gut machen, auch wenn die Hände schmerzten, das Gefühl aus den Füßen gewichen und die Anaerobe Schwelle bei dem Tempo weit überschritten war. Dann kam das Depot Karlsborg bei km 210. Die Straße führte frontal auf den See zu. Einige Fahrer fuhren dann nach links, andere nach rechts – und ich war verwirrt. So fuhr ich nach rechts, um gleich festzustellen, dass das der Weg ins Depot war. Nach links wäre die normale Streckenführung gewesen. Schade, die schnelle Gruppe war weg, aber so konnte ich wenigstens schnell in den See pullern und mir die nächste Pinkelpause sparen.
Etwas langsamer ging es dann weiter, immer noch im strömenden Regen. Super motivierend war, dass ich auf einer geschätzten 10:30er Ankunftszeit lag, weit besser als ich es geplant hatte.
Mit Hi5 Xtreme im Blut kämpfte ich mich über Boviken (km 232) Richtung Hammarsundet (km 259), meinem Lieblingsdepot, wo ich aber dieses Mal nicht anhalten wollte, auch wenn ich es jedem empfehlen kann, weil der Blick so toll ist.
Aber soweit kam ich gar nicht. Etwa bei km 255 fing mein Hinterrad an zu schlingern. Ein Gefühl, das ich schon vom 1. Mai (Eschborn-Frankfurt) kannte. Plattfuß!!!
Oh nein, meine komplette Motivation lag am Boden. Aber was sollte ich tun?
In strömendem Regen kniete ich neben meinem Rad, was auf der Seite lag. Hinterrad raus und Mantel runter ging relativ schnell.  Ich überprüfte den Mantel und fand einen kleinen Stein, der sich durchgedrückt hatte. Sollte das der Grund für den Plattfuß gewesen sein? Ich war mir nicht sicher, vertraute aber darauf.
Nachdem der neue Schlauch drin war, fing das Drama aber erst an. Ich steckte die CO2-Kartusche in die Pumpe und drehte die Hülle fest; so fest ich mit meinen kalten und klammen Händen nur konnte. Aber der Kartuschenkopf wurde nicht durchstochen, egal wie fest ich drehte. Ich verfluchte die Lenzyme-Pumpe, die aber gar nichts dafür konnte. (Zuhause merkte ich, dass ich die Kartusche zunächst auf den Ventilkopf der Pumpe hätte schrauben müssen, was sie geöffnet hätte. Neues Material soll man vorher ausprobieren, bevor man es zum Wettkampf mitnimmt.)
Ohne CO2 musste die herkömmliche Minipumpe her halten, die am Fahrradunterrohr befestigt war.
Da das Fahrrad auf der Seite lag und ich vor dem Oberrohr kniete, beugte ich mich nach vorne um von unten unter das Unterrohr zu greifen. Wie ein Blitz schlugen zwei Krämpfe hinten in meine Oberschenkel. Vor Schmerzen klappte ich nach vorne, quer über mein Rad. Was für ein Elend.
Irgendwie schaffte ich dann aber doch, das Hinterrad aufzupumpen, wenn auch nur auf etwa fünf Bar. Mehr war mit der Pumpe nicht drin.
Nachdem das Hinterrad wieder drin war, merkte ich, dass die Kette zwischen vorderem Kettenblatt und Tretlager verkeilt war. Mit meinen klammen Fingern war sie kaum noch frei zu bekommen. Irgendwie schaffte ich es irgendwann und danach versauten meine ölverschmierten Hände den weißen Sattel und das weiße Lenkerband. Aber das war mir nun auch egal.
Wieder auf dem Sattel rechnete ich, dass ich immer noch locker unter 11 Stunden bleiben konnte. Also weiter im Takt – aber wiederum nicht lange. Kurz vor der Hammarsundet-Brücke, die etwa 1 km lang ist, schlingerte das Hinterrad schon wieder. Ein Blick nach unten brachte Gewissheit: Platten Nr. 2. Aber ich hatte nun keinen Schlauch mehr. Glücklicherweise ist das Depot Hammarsundet direkt hinter der Brücke. Da es in jedem Depot einen Reparaturdienst gibt, war ich gerettet.
Ich schulterte mein Rad und lief über die Brücke, so schnell ich mit den Radschuhen konnte.
Als ich die Reparaturwerkstatt sah, bekam ich einen Schreck. Mindestens fünf Leute warteten auf Hilfe und drei Mechaniker arbeiteten an Pannenrädern.
Oh nein, meine Zeit war futsch.
Nach kurzer Zeit war ich aber dran und ließ Schlauch und Mantel wechseln, was der Monteur auch tat, obwohl ich keine Schwedischen Kronen dabei hatte. Stattdessen war man bereit, die Reparatur auf Rechnung durchzuführen (569 SEK).
Im Mantel fand man einen dicken Dorn. Vermutlich war er auch der Grund für den ersten Platten. Hätte ich den Mantel besser kontrolliert, wäre ich wohl nicht noch einmal liegen geblieben.
Gestärkt mit einer Blaubeersuppe und einem Zuckerbrötchen machte ich mich wieder auf den Weg.
Es waren noch etwa 40 km zu absolvieren und ich rechnete aus, dass ich mit einem 34er Schnitt noch unter 11 Stunden fahren konnte. Ich hielt das nicht für realistisch, aber irgendwie war mein Verstand so eingefroren, dass ich es dennoch versuchte.
Die Strecke war ziemlich hügelig. Es ging immer hoch und runter und ich merkte nach 20 km, dass ich bis ins Ziel unmöglich ein so hohes Tempo halten konnte. Dafür waren einfach nicht genügend schnelle Leute unterwegs, die mir Windschatten hätten geben können.
Schlimmer noch. Auf einmal fühlte ich mich unheimlich platt. Ich hatte überhaupt keinen Saft mehr in der Batterie. Die letzten 20 km, die ich idiotischer weise  viel zu schnell gefahren war, hatten mich so blau gemacht, dass ich nicht wusste, wie – und ob – ich die letzten 20 km überstehen konnte.
Was für eine Qual. Im Kopf hatte ich komplett abgeschaltet. Ich dachte zwar nicht ans Aufgeben aber ich dachte auch nicht mehr ans Ankommen. Bei km 290 war ich wie weg getreten. Als wir bei km 295 an unserem Campingplatz vorbei fuhren, kam die Hoffnung zurück. Und mit der Hoffnung kamen die Tränen. Freudentränen? Irgendwie schon. Aber sie kamen aus dem Innersten. Ich weinte die letzten fünf km bis ins Ziel. Ich weinte, als mir die Medallie umgehängt wurde und ich weinte auf dem Weg zum Zelt, wo ich meine Urkunde bekam. 11 Stunden und 11 Minuten standen drauf. Auf dem Rückweg zum Campingplatz weinte ich weiter, noch immer nicht fähig, meine Gefühle zu kontrollieren.
Eine Grenzerfahrung war das und ich bin froh,  dass ich sie gemacht habe.

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